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Doppelrezension | Rückkehr nach Birkenau & Und du bist nicht zurückgekommen

Die Nazis haben sechs Millionen Juden vernichtet.
Erinnert euch an das, was ihr für unvorstellbar gehalten habt. 
Wenn ihr hört, wie Eure Eltern, Verwandte oder Freunde rassistische, antisemitische Äußerungen von sich geben, fragt sie, warum.
Ihr habt das Recht zu diskutieren, sie von ihrer Meinung abzubringen, ihnen zu sagen, dass sie sich täuschen.

Rückkehr nach Birkenau, S.121

 

Diesmal ein anderes Format im Gegensatz zu den üblichen Einzelrezensionen. Warum ich mich dazu entschieden habe „Rückkehr nach Birkenau“ von Ginette Kolinka aus dem Aufbau Verlag und „Und du bist nicht zurückgekommen“ von Marceline Loridan-Ivens aus dem Suhrkamp/Insel Verlag gemeinsam in einem Beitrag zu besprechen?
Weil ich nicht möchte, dass das eine Buch mehr Aufmerksamkeit bekommt als das andere, denn beide sind von gleichermaßen hoher Bedeutsam- und Wichtigkeit.
Ginette ist 19, Marceline 15 Jahre jung, als beide am 13. April 1944 unabhängig voneinander mit dem Konvoi Nr. 71 aus dem Sammellager Drancy gemeinsam mit ihren Vätern (und in Ginettes Fall auch ihrem kleinerem Bruder und Neffe) nach Auschwitz und anschließend ohne ihre Familien nach Birkenau deportiert werden.
Und beide Frauen sind die Einzigen, die zu ihren Müttern und Schwestern zurückkehren werden.
Zwei Zeugnisse jüdischer Frauen, deren Wege sich das erste Mal im Gefängnis von Marseille kreuzen, die das Grauen der NS-Zeit überlebt haben und in ihrem jeweiligen Werk ihr Schweigen brechen.

 

Rezensionsexemplar
Und du bist nicht zurückgekommen
Autorin: Marceline Loridan-Ivens mit Judith Perrignon
Übersetzung: Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Originaltitel: Et tu n’es pas revenu (Grasset).

Suhrkamp/Insel Verlag | 111 Seiten
erschienen als gebundene Ausgabe am 07. September 2015

| Zeitzeugenbericht | Holocaust | Auschwitz-Birkenau |
| eigene Altersempfehlung: Geeignet für junge Leser*innen ab 16 Jahre |

Leseprobe: »Bei Suhrkamp/Insel Verlag«
Ansehen & Kaufoption:
»Bei Suhrkamp/Insel Verlag«

 

Klappentext
Das einzigartige Zeugnis einer der letzten Holocaust-Überlebenden

Marceline ist fünfzehn, als sie zusammen mit ihrem Vater ins Lager kommt. Sie nach Birkenau, er nach Auschwitz. Sie überlebt, er nicht. Siebzig Jahre später schreibt sie ihm einen Brief, den er niemals lesen wird.

Einen Brief, in dem sie das Unaussprechliche zu sagen versucht: Nur drei Kilometer sind sie voneinander entfernt, zwischen ihnen die Gaskammern, der Geruch von brennendem Fleisch, der Hass, die Unausweichlichkeit der eigenen Verrohung, die ständige Ungewissheit, was geschieht mit dem anderen? Einmal gelingt es dem Vater, ihr eine kleine Botschaft auf einem Zettel zu übermitteln. Aber sie vergisst die Worte sofort – und wird ein Leben lang versuchen, die zerbrochene Erinnerung wieder zusammenzufügen.
Marceline Loridan-Ivens schreibt über diese Ereignisse und über ihre unmögliche Heimkehr, sie schreibt über ihr Leben nach dem Tod, das gebrochene Weiterleben in einer Welt, die nichts von dem hören will, was sie erfahren und erlitten hat. Und über das allmähliche Gewahrwerden, dass die Familie ihren Vater dringender gebraucht hätte als sie: »Mein Leben gegen deines.«

Quelle: Suhrkamp/Insel Verlag (www.suhrkamp.de)

Rezensionsexemplar
Rückkehr nach Birkenau – Wie ich überlebt habe
Autorin: Ginette Kolinka mit Marion Ruggieri
Übersetzung: Aus dem Französischen von Nicola Denis
Originaltitel: Retour à Birkenau (Grasset & Fasquelle).

Aufbau Verlag | 124 Seiten
erschienen als gebundene Ausgabe am 21. Januar 2020

| Zeitzeugenbericht | Holocaust | Auschwitz-Birkenau |
| eigene Altersempfehlung: Geeignet für junge Leser*innen ab 16 Jahre |

Leseprobe: »Bei Aufbau Verlag«
Ansehen & Kaufoption:
»Bei Aufbau Verlag«

 

Klappentext
Im März 1944 wird Ginette Kolinka zusammen mit ihrem Vater, ihrem Bruder und ihrem Neffen von Avignon nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ginette ist die Einzige, die Monate später nach Paris zurückkehrt. Sie schildert eindringlich, wie sie die Schläge, den Hunger, die Kälte, die Nacktheit, den Hass, das Grauen im Lager überlebt hat. Und sie erzählt, wie notwendig das Festhalten an der Weiblichkeit für sie war. Ein Kleid, das Simone Veil ihr im Lager schenkte, gab ihr Würde und Kraft zum Überleben. Ginette Kolinka hat lange geschwiegen und ihre Geschichte zum ersten Mal erzählt, als Steven Spielberg Zeitzeugen für “Schindlers Liste” suchte. Heute führt sie regelmäßig Schulklassen durch Auschwitz. Sie ist 94 Jahre alt und lebt in Paris.
Quelle: Aufbau Verlag (www.aufbau-verlag.de)

Info: In beiden Klappentexten ist die Rede von der Deportation im März 1944. Dies ist allerdings nicht richtig. Laut den Büchern und eigenen Recherchen ist es im April 1944 gewesen.

 

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Meinung 

Wer mich vor allem auf Instagram schon etwas länger verfolgt weiß, dass mich Literatur über die Shoah sehr interessiert. Und egal, wieviele Werke man über diese bedrückende Thematik bereits gelesen hat, ob Zeitzeugenberichte oder Romane, die auf realen Fakten beruhen und vom Kitt der Fiktion zusammengehalten werden, erschüttern sie einen immer wieder aufs Neue.
Bis vor kurzem war ich noch der Meinung, dass ich auf jeden Fall einmal in meinem Leben Auschwitz-Birkenau besichtigen will. Dann las ich diese beiden historischen Zeitberichte, die mir nach einigen Überlegungen und gedanklichem hin und her deutlich aufgezeigt haben von diesem Vorhaben abzusehen. Wieso genau, dazu kommen wir im Laufe dieser Besprechung.

Bis jetzt waren wir noch menschliche Wesen. Nun sind wir nichts mehr.
Rückkehr nach Birkenau, S. 25

Ich werde jetzt nicht damit beginnen euch zu erläutern, wie schlimm diese Zeit für die Betroffenen war und für die wenigen Überlebenden noch immer ist. Mit welcher Grausamkeit und Brutalität in jedem einzelnen Vernichtungs- und Arbeitslager, geprägt von Entmenschlichung, vorgegangen wurde, dürfte jedem von uns bekannt sein! Dem einen mehr, dem anderen weniger…
Vieles davon hat man durch unterschiedliche Quellen gehört oder gelesen – und doch sind es Einzelschicksale wie diese, die einen sprachlos zurücklassen und mich nicht begreifen lassen, dass es noch Menschen auf diesem Planeten gibt, die den Holocaust leugnen. Jede Niederschrift der Überlebenden muss gehört, gelesen und in den unterschiedlichsten Sprachen verbreitet werden, dass dieses Stück Zeitgeschichte und deren Opfer niemals in Vergessenheit geraten!
Infolgedessen möchte ich euch die beiden obigen Schicksale etwas näher bringen.

Die Zuversicht zu verlieren, heißt, den Tod willkommen zu heißen.
Rückkehr nach Birkenau, S. 52

Widmen wir uns zuerst „Rückkehr nach Birkenau“. Aber nicht etwa, weil mir das Buch besser gefallen hat als „Und du bist nicht zurückgekommen“ (ich weise nochmal ausdrücklich drauf hin, dass beide Werke gleichbedeutend sind!), sondern weil ich es als erstes der beiden Werke gelesen habe.
Das Ginette Kolinka über Ihren Lageraufenthalt in Auschwitz-Birkenau und ihren Wiedereinstieg ins Leben ab 1945 zu Papier gebracht hat, haben wir keinem anderen als Steven Spielberg zu verdanken, der für seinen preisgekrönten Film „Schindlers Liste“ auf der Suche nach Augenzeugenberichten war.
Ihr beschwerliches Schicksal beginnt mit der Flucht aus Paris in das unbesetzte Avignon, wo die junge Frau später von deren Haftanstalt in das Gefängnis Les Baumettes in Marseille gebracht wird. Von da weiter in das Sammellager Drancy, von wo sie einen Monat später in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau transportiert wird. Es folgen das Konzentrationslager Bergen-Belsen, das Arbeitslager Raguhn und Theresienstadt, bis Ginette schließlich nach Lyon repatriiert wurde und wieder bei ihrer Mutter und ihren Schwestern in der Heimatstadt Paris ankommt.
Geschrieben im Präsens erzählt die heute 95jährige (bei Veröffentlichungen ihres Buches war sie 94) in diesem 124-seitigem schmalen Büchlein aber nicht nur ihren Leidensweg, sondern räumt mit noch heute weit verbreiteten Irrtümern auf, wie z.B. der gestreiften Kleidung der jüdischen Lagerinsassen*innen.
In den kurzen Kapitel mit den relativ lapidaren Sätzen bekommt man einen Mischung aus Erinnerungen und eigenen Recherchen geboten.
Heutzutage führt Ginette Schulklassen durch Auschwitz und erinnert die Schüler bei jeder Führung daran, dass „unter jedem ihrer Schritte ein Toter liegt.“ Dieser Satz wirkt noch immer in mir nach und ist einer der Gründe, weshalb ich mein zu Anfang erwähntes Vorhaben nicht mehr umsetzen möchte. Mir erscheint es den zahlreichen Opfern respektlos gegenüber, weswegen ich auch der Meinung bin, dass man Ausflüge, in welches Konzentrationslager auch immer, nicht als Pflicht in Schulen einführen sollte. Denn nicht jeder will und kann mit dieser bedrückenden und beklemmenden Situation dort umgehen.
Dennoch finde ich es bewundernswert und unglaublich mutig, dass ehemals dorthin deportierte Personen wie Ginette, nach all deren erlebten Tortur, die unglaubliche Stärke besitzen, ihre Erfahrungen und das Wissen über die Geschichte des Holocaust an die nachfolgenden Generationen auf diesem Wege weiter geben. Denn bei einer “normale” Fremdenführerin, die erzählt, dass “der Tod schnell eintritt, nach fünfundzwanzig Minuten” (Rückkehr nach Birkenau, S. 119), ist meines Erachtens jede Menschlichkeit verloren gegangen… 

Es war notwendig, dass das Gedächtnis zerbrach, sonst hätte ich nicht leben können.
Und du bist nicht zurückgekommen, S. 29

Marceline Loridan-Ivens‘ Schicksal ist dem von Ginette recht ähnlich. Mit 87 Jahren bricht sie ihr Schweigen über ihre tief traumatisierte Zeit, in der sie ebenfalls die oben erwähnten Standorte überlebt hat: Avignon, Marseille, Drancy, Birkenau, Bergen-Belsen, Raguhn, Theresienstadt.
Ihr 111-seitiges Buch „Und du bist nicht zurückgekommen“ könnte man auch als 111-seitigen Brief bezeichnen. Es ist ihre Antwort auf die geschriebenen Zeilen ihres Vaters, die sie im Sommer 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau erreicht haben. Zu diesem Zeitpunkt war sie durch die dortige Zwangsarbeit jedoch schon so sehr geschwächt, dass sie sich heute nur noch an die Anrede und die letzte Zeile erinnert und nicht weiß, wie, wann und wo sie den Brief verloren hat. Eine Liebeserklärung an ihren Vater und gleichzeitig ein letzter Versuch, die furchtbaren, am eigenen Leib erfahrenen Erlebnisse aus der NS-Zeit und nach ihrer Rückkehr zu verarbeiten.
Mit klaren Worten beschreibt sie z.B. die Selektion durch Mengele, die Exekution von „Mala“ Zimetbaum am 15. September 1944 und den Aufstand des Sonderkommandos am 07. Oktober 1944. All diesen uns heute bekannten Ereignisse hat sie beigewohnt.
Am besten ist es, wenn ihr Marceline an dieser Stelle einmal selbst zuhört.

 

 
Beide Bücher haben einen ruhigen, leisen Erzählstil, der umso gewaltiger ist. Sie vermitteln das Gefühl, als sitze man den Erzählerinnen direkt gegenüber. Als unterhielte man sich selbst mit ihnen. Es geht in erster Linie um Aufklärung, nicht um eine emotionale Erzählstruktur, die den Leser auf der Ebene eines historischen Romans berühren soll. Und beide Dokumente zeigen auf, dass das Leben eine Überlebenden vermutlich nie wieder normal verlaufen kann. „Überleben“ ist eine Sache, „weiterleben“ eine ganz andere.
Marceline sagt in einem Autoreninterview „Man kehrt nie aus Auschwitz zurück, weil Auschwitz im Kopf immer weiterexistiert.“ Ich denke, dieser Satz ist für sich selbstredend…
Ein Datum ist mir bei beiden Berichten besonders im Gedächtnis geblieben: Der 12. April 1944.
Der Tag, an dem meine Oma in Deutschland, zu diesem Zeitpunkt nichtsahnend des ganzen Verbrechens, ihren 5. Geburtstag gefeiert hat, während in Drancy zwei jüdische Familien von ihrer Deportation nach Auschwitz am nächsten Tag erfahren und sich so gut es eben nur möglich ist, darauf versuchen vorzubereiten…..
Wenn ich es nun geschafft habe, dass du beide Bücher lesen möchtest, dann empfehle ich zuerst mit Marcelines Bericht zu beginnen und dann Ginettes. Denn in „Rückkehr nach Birkenau“ wird auf die Begegnungen und die Freundschaft der beiden jüdischen Frauen etwas detaillierter eingegangen und es gibt ein gewisses Ereignis in Raguhn, welches man dann besser zuordnen kann.

Der beendete Krieg zerfraß uns alle von innen her.
Und du bist nicht zurückgekommen, S. 73

Eine Bewertung wird an dieser Stelle, wo normalerweise das Fazit steht, nicht erfolgen, denn ich finde es mehr als unangebracht, solch derart persönliche Zeitdokumente auf irgendeiner Art und Weise zu bewerten. Zeitzeugenberichte, egal welcher Art, gehören nicht in ein Bewertungssystem einsortiert oder nach irgendwelchen Sternen oder sonstiges beurteilt. Man sollte sich hierbei immer vor Augen halten, dass das Leid, was in diesen Büchern niedergeschrieben wurde, nicht auf irgendeiner fiktionalen Idee eines Autors zurückzuführen ist, sondern von diesen beiden Frauen und noch mehreren Millionen Menschen am eigenen Leib widerfahren ist.
Jeder sollte sich die Zeit für diese sehr wichtigen Bücher nehmen, denn bald werden sie zu den letzen Zeugnissen dieser Art gehören. Und das ist das Mindeste, was alle von uns zu diesem Thema beitragen können.
Ginette und Marceline trafen sich bis zum Tod von Marceline immer noch jeden ersten Mittwoch im Monat im Colisée auf dem Champs-Élysée.


 

 

©
Foto: Stella Reads
Cover: Suhrkamp/Insel Verlag und Aufbau Verlag 

Diese Rezensionsexemplare wurden mir von beiden Verlagen kostenlos zur Verfügung gestellt.
Vielen Dank an dieser Stelle an Tabitha van Hauten vom Suhrkamp/Insel Verlag und an Julia Kufner vom Aufbau Verlag!
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